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  • AutorenbildCarla

Mathilda

Aktualisiert: 30. Sept. 2020

Liebe Mathilda,


du bist meine Tochter. Meine Tochter, der die Chance aufs Leben noch vor ihrer Geburt genommen wurde. Meine Tochter, die in der schlimmsten Situation meines Lebens entstanden ist. Meine Tochter, die ich trotz aller Widrigkeiten von der ersten Sekunde an wie verrückt geliebt habe.

Du bist das wunderbarste, das ich jemals spüren durfte. Dein kleines Herzchen schlug so schnell und doch so stark. Wie das Herz deiner Mama. Dein kleines Herz hat mir gezeigt, wie sehr du leben möchtest. Wie sehr du diese Chance auf ein Wunder haben möchtest.

Als ich deinen Herzschlag das erste Mal hörte, schlug die Liebe zu dir wie ein Blitz ein und wird mich auch nicht mehr verlassen. Ganz egal, wie schrecklich die Umstände deiner Entstehung auch waren - du bist mein kleines Wunder. Meine Tochter. Mathilda eben.

Ich war damals mit 15 Jahren nicht stark genug, um dich zu behalten. Dann hätte ich allen erzählen müssen, was mir widerfahren war, wie du entstanden bist. Mein Körper war viel zu schwach und zierlich, um dich auszutragen oder zur Welt zu bringen. Dabei wären wahrscheinlich wir beide gestorben. Und ich wusste nicht, wie ich dich hätte groß ziehen sollen. Was hätte ich dir antworten sollen, wenn du nach deinem Vater gefragt hättest? Was hätte ich dir schon bieten können? Was wäre aus mir, meinen Plänen und meiner Zukunft geworden? Hätte ich einen Mann gefunden, der uns beide bedingungslos lieben würde? Der dich akzeptieren würde, obwohl du in der schlimmsten Nacht meines Lebens entstanden bist?

Heute weiß ich, dass ich es vielleicht geschafft hätte. Dass meine Eltern mich und uns in allem unterstützt hätten. Ich wäre weiterhin zur Schule gegangen, hätte mein Abitur gemacht und dann halt direkt mit meinem Studium angefangen. Gemeinsam hätten wir die ganzen harten Jahre geschafft. Und du hättest alle Liebe, Fürsorge und jeden Schutz der Welt bekommen. Ich hätte alles dafür getan, dass dir nichts passiert. Ja, es wäre verdammt hart geworden. Es wäre eine unfassbare Aufgabe geworden, dich, mich, unsere Bedürfnisse und meine Zukunft gleichzeitig irgendwie zu balancieren. Vielleicht hätte ich dann nie ein Medizinstudium begonnen. Vielleicht hätten wir aber auch alles geschafft. Deine Oma hätte auf dich aufgepasst und du hättest nach einigen Jahren sogar einen Papa gefunden, der dich wie das kostbarste Gut auf Erden behandelt hätte. Jetzt weiß ich all das. Aber damals war ich doch selbst noch ein Kind. 15 Jahre alt und plötzlich total überfordert mit der Situation. Ich sah dich, ich hörte dein Herz und ich spürte dich in mir. Und dennoch wusste ich, dass ich dich loslassen musste. Nicht, weil ich dich nicht geliebt hätte. Nicht, weil du mich immer an IHN und die schlimmste Nacht meines Lebens erinnert hättest. Einfach nur, weil ich keine Kraft hatte, auf uns beide aufzupassen. In meinem kleinen Gehirn schien es, als dürfe ich mit niemandem reden. Mich niemandem anvertrauen. Mit niemandem all das Schreckliche teilen. Doch ich hätte es gedurft. Ich hätte reden und weinen und meinen Schmerz zulassen dürfen. Doch das konnte ich leider noch nicht.

Wenn ich heute an dich denke, dann sehe ich eine sehr aufgeweckte Dreijährige. Ein Mädchen, das das Leben in vollen Zügen lebt und entdeckt. Ein Mädchen, das alle mit ihrem Lachen und ihrer Freude ansteckt. Ein Mädchen, das von innen heraus zu leuchten scheint. Ein Mädchen, das in ihren so jungen Jahren doch schon diese Ernsthaftigkeit in ihren Augen hat. Als wüsste es von all dem Leid. Als würde es das Leid der ganzen Welt spüren und doch nichts tun können. Ein Mädchen, das neugierig und unglaublich wissbegierig ist. Das alles wissen und verstehen möchte. Das unendlich viele Fragen stellt und eine große Zukunft hat. Ein Mädchen, das so stark und mutig und selbstbewusst ist, das ihm alle Türen offen stehen. Ein Mädchen, das alle nur erdenklichen Möglichkeiten hat. Ein kleiner weißblonder Wirbelwind mit viel zu viel Energie und viel zu wenig Geduld. Denn genau so war ich in deinem Alter. Ich wollte immer mehr und mehr wissen und schaffen. Wollte genauso behandelt werden wie die Großen und habe imme schon lieber mit den Erziehern geredet als mit den anderen Kindern. Auch ich habe diese Traurigkeit und das Leid der anderen gespürt - doch konnte es mir keiner erklären. Heute weiß ich, woran es liegt, und hätte dir diese quälende Frage beantworten können.

Du bist und wirst auch immer bei mir bleiben. Denn in meinen Gedanken habe ich eine Tochter. Eine ganz wunderbare sogar, die mein größtes Geschenk ist. Und ich kann den Tag, an dem du große Schwester wirst, kaum erwarten. Ich hoffe so sehr, dass du deinen Frieden gefunden hast und mich nicht zu sehr hasst.

Es tut mir leid, dass ich damals so entschieden habe. Ich konnte schlicht nicht anders, war ich doch selbst noch so klein und hätte eigentlich selbst beschützt werden müssen. Dennoch hadere ich noch immer sehr mit dieser Entscheidung und frage mich täglich wieder, ob ich nicht stärker hätte sein müssen. Ob ich dir nicht die Chance zu leben hätte geben müssen. Denn wer bin ich schon, über Leben und Tod zu entscheiden. Ich bin deine Mutter und hätte dich wahrscheinlich um jeden Preis schützen müssen. Und rückblickend war es doch eine zu rechtfertigende Entscheidung.

Ich hoffe so sehr, auch irgendwann meinen Frieden mit dieser Entscheidung finden zu können.


In meinen Gedanken und in meinem Herzen wirst du immer leben. Du hast nie das Licht der Welt erblickt und doch einen so großen Unterschied für mich gemacht. Und dafür danke ich dir.


Ich liebe dich.


Deine Mama

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