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  • AutorenbildCarla

Der Tod

Aktualisiert: 30. Sept. 2020

Ich habe keine Angst vor dem Tod. Nicht mehr. Ich habe nur Angst davor, dass ich sterbe, bevor ich die Chance hatte zu leben. Ich habe Angst, dass der Tod mich einfach überrascht. Dass er plötzlich da steht und mein Leben beendet. In einem Moment, in dem ich noch nicht damit gerechnet habe.

Ich spüre seit Wochen und Monaten immer mehr, dass der Tod mein ständiger Begleiter ist. An einigen Tagen mehr, an anderen weniger. Aber er ist immer da. Manchmal direkt neben mir und manchmal ein Stückchen dahinter. Er begleitet mich stets überall hin. In mir ist diese dunkle Gewissheit, dass ich deutlich früher sterben würde, als ich es ursprünglich mal dachte. Es gibt immer mehr Tage, an denen ich mir nicht sicher bin, ob ich den nächsten Tag noch erleben werde. Ob ich wirklich nochmal aufwachen werde. Und bisher bin ich doch immer wieder aufgewacht. Manchmal einfach nur, um direkt wieder einzuschlafen, weil die Kraft zum Aufstehen fehlt. Ich merke jeden Tag aufs Neue, dass mein Körper immer schwächer wird. Dass meine Lungen immer härter dafür arbeiten müssen, dass sie überhaupt noch Luft in und durch meinen Körper bekommen. Die Kraft, die mich früher immer angetrieben hat, die schier unendlich war, ist nicht mehr da. Sie ist aufgebraucht oder hat mich einfach verlassen. Vielleicht habe ich einfach zu viel gelebt. Bin zu viel gelaufen, habe zu viel gelacht und damit alles aufgebraucht. Aber woher hätte ich denn wissen sollen, dass Kraft so endlich ist? Ich habe einfach nur gelebt. Frei und unbeschwert. Ohne drüber nachdenken zu müssen, ob ich wohl genügend Energie zum Duschen habe. Oder um einen kurzen Spaziergang zu machen. Ich bin noch so jung und doch ist mein Körper so verbraucht.

Gestern war ich in der Anästhesie zum Narkosegespräch. Dieses dauerte fast eine Stunde, weil ich so krank bin. Ich wurde als ASA4 Patientin eingestuft - „Patient mit schwerer Allgemeinerkrankung, die eine ständige Lebensbedrohung darstellt“. Ich habe im Vorhinein den berühmten Fragebogen zu Vorerkrankungen ausgefüllt und konnte mein Kreuzchen dabei fast überall bei „ja“ setzen. Ja, ich habe eine Herzrhythmusstörung. Ja, ich habe Atemnot, ein Engegefühl in der Brust und Herzstiche. Ja, ich habe ein schweres Asthma und dazu noch weniger als 20% Lungenfunktion. Ja, ich habe Allergien, allerdings nur auf Medikamente bezogen. Ja, ich habe schwere psychiatrische Erkrankungen. Eine schwere PTBS, dissoziative Krampfanfälle mehrmals täglich, Depressionen, eine Anorexia nervosa. Ja, ich nehme einen ganzen Haufen Medikamente ein. Ja, ich habe eventuell eine Muskelschwäche – das muss ja noch abgeklärt werden. Ja, ich darf eigentlich keine Opiate und kaum Schmerzmittel bekommen. Weil das eine mit meiner Lunge nicht geht und das andere zu einem Serotoninsyndrom führen kann – beides uncool. Ja, ich habe die letzte Narkose so schlecht überstanden, dass ich abends ins Koma gefallen bin. Ja, ich sollte eigentlich überhaupt keine Vollnarkosen bekommen. Aber manchmal geht es halt nicht anders. Glücklicherweise hat das Gespräch eine sehr verständnisvolle, sympathische und erfahrene Anästhesistin geführt, die sich persönlich darum gekümmert hat, dass alle Gefahren minimiert werden. Der OP-Plan wurde umgestellt, damit ich als erste in den Saal konnte. Ich weiß, dass das eigentlich dafür sorgen soll, dass ich mich sicherer fühle. Aber all das zeigt mir nur, dass ich mit 19 Jahren zu der Gruppe der schwerstkranken Patienten gehöre. Und noch weiß keiner, was die genaue Ursache ist. Innerhalb eines Jahres ist meine Lungenfunktion von 130% auf weniger als 20% gesunken. Dabei hatte ich vor fünf Monaten noch eine Lungenfunktion von über 60%. Aber bei jeder Lungenfunktionsmessung werden die Ergebnisse nur schlechter. Mittlerweile sind sie nicht mehr auszuwerten. Auch unter Maximaltherapie sinkt die Funktion stetig weiter. Wenn es in dem Tempo weitergeht, habe ich nur noch wenige Wochen. Aber es weiß ja keiner, was passieren wird. Immer mehr Ärzte geben mich auf und können nichts mehr für mich tun. Und meine Familie und meine Freunde wollen um mich kämpfen. Erzählen mir ständig, dass doch alles wieder gut werden könne. Werfen mir vor, dass ich mich hängen lassen würde. Dass ich doch noch nicht aufgeben dürfe. Dabei stehe ich in der Mitte. Ständig zwischen den Stühlen. Ich weiß, dass es sich immer mehr so anfühlt, als würde mich meine Lebensenergie Stück für Stück weiter verlassen. Ich habe keine Energie mehr. Aber das ist nicht in Ordnung. Ja, ich darf mal schwach sein. Aber dann wird mir gesagt, dass ich mich zusammenreißen solle. Sei ja alles nicht so schlimm.

Und trotzdem ist der Tod mein Begleiter. Immer da. Und immer ein Stückchen näher als am Vortag. Es wird immer schwieriger, zu atmen, zu funktionieren.

Eigentlich wünsche ich mir nur eine Diagnose. Damit ich weiß, worauf ich mich einstellen kann. Aber dieser Wunsch ist anscheinend ziemlich unerfüllbar…

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